«Angst haben geht in diesem Job gar nicht»
Sie ist eine Legende am Unispital Zürich, sie trägt den Übernamen Vampir, und sie hat die grösste Schweinchensammlung in einem Behandlungszimmer in der Schweiz. Sie sei für ihre Patient:innen Kummerkasten und Vertraute und die Schulter, an der man sich ausheult. Ein Interview mit Christina Grube, Pflegefachfrau mit Engagement und Herz, die Ende 2022 in Pension geht.

Christina Grube
Christina Grube, geboren 1957 in Weimar, 1975 Ausbildung zur Kinderkrankenschwester in Deutschland, anschliessend in verschiedenen Städten in vielen medizinischen Bereichen tätig, vier Jahre am Kantonsspital Aarau, Rückkehr nach Deutschland, Arbeitsstelle im Frankental, dann am Unispital Zürich. Grube lebt zusammenhängend seit 33 Jahren in Zürich. Mit vielen ihrer ehemaligen Patient:innen wird sie auch nach der Pensionierung in Kontakt bleiben.
INTERVIEW: Brigitta javurek
Frau Grube, Sie sind seit 27 Jahren am Unispital tätig, immer auf der Infektiologie. Wie kam das?
Bevor ich ans Unispital kam, war ich vier Jahre lang in der Drogenentzugsstation Frankental tätig. Immer wieder begleitete ich Klient:innen ins Unispital, in den sogenannten Aids-Bunker, ein Holzhaus im Park des Spitals, das sehr familiär geführt wurde. HIV, Aids und Drogen, das waren Themen, die mich interessierten. Als dann in der Zeitung eine Stelle auf der Infektiologie am Unispital Zürich ausgeschrieben war, bewarb ich mich. Und bekam die Stelle – mit dem Hinweis von Professor Opravil, dass er mich einstellen musste, ich hätte ihn ja in Grund und Boden geredet. Nach sechs Monaten wollte ich wieder kündigen, es starben so viele Menschen, das war sehr frustrierend. Keine schöne Zeit. Doch ich fing mich wieder, machte weiter und habe es bis heute nie bereut. Ich gehe immer noch jeden Morgen gern zur Arbeit.
Wäre eine HIV-Übertragung auch bei Ihnen möglich gewesen, in jener Zeit, als man in Bezug auf HIV noch mit vielem im Dunkeln tappte?
Na ja, wir alle haben Dinge gemacht, die dazu hätten führen können. Als ich mich 1988 bei einem Notfall auf einer Dialysestation ansteckte, dachte ich mir, oh, das könnte auch für HIV gelten, hatte ich doch zu dieser Zeit auch eine Beziehung mit einem Mann, der HIV-positiv war. Wir haben zwar immer mit Gummi, aber … Die drei Wochen auf das Resultat zu warten, waren dann die längsten drei Wochen meines Lebens. Hätte ich mich damals mit HIV angesteckt, wäre das nicht so toll gewesen, aber heute ist das ja, dank der Medizin, zum Glück nicht mehr so. Angst haben geht in diesem Job sowieso nicht.
Sie sind für Ihre Patient:innen mehr als eine Pflegefachfrau. Sie nehmen sie auch mal in den Arm und überschreiten sogenannt professionelle Grenzen. Können Sie sich gut abgrenzen?
Ja, ich kann mich gut abgrenzen. Aber ich lebe die Schicksale meiner Patient:innen ein Stück weit auch mit. Ich arbeite immer, auch in den Anfängen mit Aids-Patient:innen, ohne Handschuhe. Erstens habe ich damit kein Gefühl in den Fingern, und wenn ich mir vorstelle, ich wäre die Patientin, was ist das für eine Ansage an die Menschen, die zu mir kommen – sind sie Aussätzige oder was? Vor Kurzem hatte ich eine ukrainische Flüchtlingsfrau in der Sprechstunde, die ganz erstaunt war, dass sie keine Schutzkleidung überziehen musste und vor allem dass ich alles ohne Handschuhe erledigte und sie am Schluss auch noch in den Arm nahm. Ein Setting, das sie nicht kannte, aber für mich ist das das Normale. Ich nehme meine Patient:innen in den Arm, ich scheisse sie auch zusammen, ich heule mit ihnen. Wenn Menschen ausgegrenzt und schlecht behandelt werden, tut mir das weh. Das sage ich auch immer den jungen Docs: Stell dir vor, du sitzt auf der anderen Seite des Schreibtischs. Wie möchtest du behandelt werden?
Ich bin für etliche meiner Patient:innen die Einzige, mit der sie über HIV und all ihre Sorgen sprechen können. Sie halten ihren Status, aus unterschiedlichsten Gründen, geheim, und ich bin ihre Vertraute. Wenn ich jetzt ankündige, dass ich im Dezember pensioniert werde, fliessen da Tränen, auch bei mir.
Sie haben Patient:innen, die Sie seit 27 Jahren begleiten?
Ja, ich habe einige, die ich seit den Anfängen begleite. Da sind zahlreiche Freundschaften entstanden. Mit zwei meiner Patienten hatte ich in einer WG gewohnt. Ich gehe mit Patient:innen in die Ferien, zu meinem fünfzigsten Geburtstag wurde ich nach Südafrika eingeladen – und flog erst noch Business Class. Ich gebe ja nicht nur, es kommt auch ganz viel zurück. Wenn ich neue Patient:innen habe, versuche ich sie zu verstehen, «übersetze» für sie, was sie medizinisch nicht verstanden haben, höre ihnen zu und stelle Fragen. Neue Patient:innen erhalten auch meine Handynummer, für den Fall der Fälle, dass sie nicht klarkommen, oder weil ja alles neu ist, Fragen auftauchen, die nicht warten können. Bis jetzt hat das noch nie jemand missbraucht, noch nie hat mich wer um drei Uhr nachts angerufen. Ich sage auch immer, es gibt keine dummen Fragen, ihr könnt das alles gar nicht wissen, woher auch.
Sind Ihr grosses Wissen und Ihre Erfahrung gefragt?
Nicht wirklich. Meine Nichte, Lehrerin in Deutschland, bestellt mich manchmal ein, wenn sie mit ihrer Klasse das Thema HIV behandelt. Da erzähle ich und kann immer auch ganz viele Beispiele vorbringen. Oder ab und an erhalte ich eine Anfrage für einen Vortrag.
Haben Sie eine Ahnung, wie viele Menschen mit HIV Sie in all den Jahren begleitet haben?
Nein, keine Ahnung. Jemand hat mal gesagt, es wäre eh interessanter zu wissen, wie viele Liter Blut, daher auch mein Spitzname Vampir, ich abgezapft habe oder wie viel Stahl für die Nadeln oder wie viele Hektoliter Alkohol ich bis heute gebraucht habe. Sagen kann ich, dass mein ältester Patient Jahrgang 1935 hat und mein jüngster Patient gerade 18 Jahre alt wurde.
Sie sind eine Study Nurse. Was heisst das genau?
Ich finde dieses Wort so bescheuert. Übersetzt meint das eine Studien-Schwester. Die Bezeichnung stammt aus dem Jahr 1988 und ist verknüpft mit der Schweizerischen Kohortenstudie. Es gehört auch viel Bürokratie dazu, darum fand man, man brauche neben der Qualifikation als Krankenschwester auch ein Wissen und Verständnis zu Studien. Der Begriff stammt aus dem Amerikanischen und stimmt insofern, als wir längst viele eigene und Pharma-Studien begleiten. Man schaut dann, wer ins Studiensetting passt, fragt entsprechend Patient:innen an und klärt sie auf. Während der ganzen Studienzeit werden diese dann vom Studienarzt und der zuständigen Study Nurse betreut.
Menschen mit Aids-definierenden Erkrankungen gibt es nicht mehr viele in der Schweiz?
Nein, und dennoch hatte ich erst kürzlich wieder einen Patienten, der sich ganz lange nicht bei einem Arzt oder einer Ärztin gemeldet hatte – bis er Aids hatte. Aus Scham hatte er sich keine medizinische Hilfe geholt. Es ist so traurig, dass das auch heute noch vorkommt. Ich nahm ihn dann in den Arm, und er meinte, hätte ich jemanden wie dich gehabt …
Hat die Scham, an HIV zu erkranken, in all den Jahren nicht abgenommen?
Leider nicht. Das macht mich ja so stinkig. Bin ich bei Freunden mit Bekannten auf Besuch, kommen wir im Lauf des Abends immer auf meine Arbeit zu sprechen. Und oft rücken dann Menschen, die ich an dem Abend kennengelernt habe, von mir weg oder geben mir zum Abschied nicht die Hand, auch heute noch. Diese Menschen glauben, dass sie sich bei mir anstecken könnten, weil ich mit Menschen mit HIV arbeite.
«Noch immer klebt an HIV so was Schmuddeliges.
Wir sind nicht viel weitergekommen, ausser bei den Medikamenten.»
Auch Undetectable – das Virus kann nicht mehr nachgewiesen werden, wenn man als Mensch mit HIV regel-mässig Medikamente einnimmt – ist in der Bevölkerung nicht wirklich angekommen.
Leider wahr. Man liest ja auch in den Medien zu wenig darüber. Aber selbst in der schwulen Community ist die Botschaft nicht präsent. Da ruft mich ein Mann an, der seit zwölf Jahren unter der Nachweisgrenze ist, und erzählt, er sei in Panik, seit er wisse, dass er mit einem HIV-positiven Mann Sex hatte. Ich schlage dann vor, dass die beiden gemeinsam zu mir kommen. Und mit dem Einverständnis des Mannes mit HIV kläre ich den andern Mann auf. Noch immer klebt an HIV so was Schmuddeliges. Wir sind nicht viel weitergekommen, ausser bei den Medikamenten.
Medizinisch ist HIV eine Erfolgsgeschichte?
Ganz klar. Heute in der Früh hatte ich einen Patienten, den ich seit 27 Jahren begleite. Jetzt haben wir seine Therapie umgestellt. Wahnsinn, was der alles in seinem Leben mit Medikamenten und Nebenwirkungen erlebt hat, morgens, mittags und abends immer zur genau gleichen Zeit die Medis einnehmen, einige mit Essen, andere ohne und so weiter. Und jetzt schluckt er neu eine Pille mit zwei Wirkstoffen. Da denk ich dann, es hat sich schon auch viel Gutes ereignet.
Frau Grube, Sie haben in Ihrem Arbeitsleben viel gegeben und viel erlebt. Was macht die Grube, wenn sie pensioniert ist?
Sie geniesst ihr Leben. Sie wird Freunde und die demente Mutter im Saarland öfters besuchen. Ich kann mich sehr gut selber beschäftigen. Ich habe mich noch nie mit mir gelangweilt. Ich lese sehr gern, alles querbeet. Dieses Wochenende fahre ich nach Hamburg und werde ein noch unveröffentlichtes medizinisches Buch über HIV lesen und mir Gedanken darüber machen, ob man das Buch allenfalls für die Schweiz adaptieren kann. Am TV schaue ich gern nordische Krimis. Ich bin ein Nordmensch, Rügen ist einer meiner Rückzugsorte, und ich bin ein Fan von Norwegen.

Sie haben eine riesige Sammlung von Schweinen und Schweinchen aller Art, die Sie von Ihren Patient:innen geschenkt bekommen haben. Was passiert mit ihnen?
Die kommen gewaschen, an der Wäscheleine getrocknet und abgestaubt ins Schweinemuseum in Bad Wimpfen, Deutschland – wenn sie sie dort nehmen. Ich wohne in einer Zweizimmerwohnung, da kann ich die Sammlung nicht unterbringen. Und im Kunsthaus Zürich war auch keine Ecke frei … Ausnahme sind diese Schweine hier, die sind alle von verstorbenen Patient:innen, die bekommen einen Platz bei mir zu Hause.
Und was passiert mit Ihrem Erfahrungsschatz?
Ich habe zu Hause ganz viele Tonbänder, die ich mit meinen Erlebnissen gefüllt habe. Wie die Geschichte, als mir ein Hund, den eine Patientin unerlaubterweise in einem Korb ins Behandlungszimmer geschmuggelt hatte, in die Ecke gekackt hat. Ich habe in der Tat ganz viele Geschichten rund um meine Patient:innen im Hinterkopf. Vielleicht finde ich irgendwann die Zeit, diese Geschichten zu erzählen.