«Die Elimination von HIV und Hepatitis»
Andri Rauch, Chefarzt und assoziierter Professor am Inselspital Bern, über die 2030 Roadmap zur Beendigung von HIV und Hepatitis B und C in der Schweiz.

Andri Rauch
ist Chefarzt und assoziierter Professor an der Abteilung für Infektionskrankheiten des Universitätsspitals Inselspital Bern. Seine Forschungsschwerpunkte sind HIV- und Hepatitis-Koinfektionen. Er ist der verantwortliche Prüfarzt für zahlreiche Studien im Bereich HIV und virale Hepatitis. Er ist Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie (SHCS) und Mitglied der Eidgenössischen Kommission für sexuelle Infektionen (EKSI).
NTERVIEW: Brigitta Javurek | Mai 2022
Wird 2030 die Elimination von HIV und HEP in der Schweiz Realität sein?
Ein Teil der Eliminationsziele der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wie das sogenannte «90-90-90»-Zwischenziel für das Jahr 2020 ist in der Schweiz erreicht. Allerdings ist das Ziel von UNAIDS, die Anzahl neuer Infektionen bis 2030 um 90 % zu reduzieren, sowohl für HIV als auch für Hepatitis (HEP) bei Weitem noch nicht erreicht. Die von der WHO und UNAIDS vorgegebenen Eliminationsziele bleiben weiterhin relevant. Es ist wichtig und richtig, ein Ziel zu definieren und konsequent auf dieses Ziel hinzuarbeiten. Eine deutliche Reduktion der Übertragungen und Krankheitslast von HIV und HEP bis 2030 ist realistisch, wenn die Bemühungen aller Beteiligten weitergeführt und optimiert werden. Die Bemühungen von Ärzt:innen, Behörden, Bundesamt für Gesundheit, der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie (SHCS), Swiss-PrEPared, Präventionsfachleuten, Patient:innen, der Aids-Hilfe Schweiz usw. müssen fortgesetzt, verbessert und optimal koordiniert werden. Koordination ist entscheidend, alle müssen am selben Strang ziehen, und dafür braucht es eine zeitgemässe nationale Strategie.
Die bestehende Strategie des BAG wurde bis 2024 verlängert. Gut so?
Wir brauchen eine nationale Strategie zur Erreichung der Eliminationsziele. In der bestehenden Strategie werden die neusten Entwicklungen nicht genügend berücksichtigt, etwa bei PrEP, aber das ist nur eines von vielen Beispielen. Weitere Beispiele für neue Entwicklungen, die in der bisherigen Strategie noch nicht genügend berücksichtigt sind, sind die Möglichkeiten des Datenlinkens oder die neuen Entwicklungen in der molekularen Epidemiologie. In der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie (SHCS) – der weltweit ältesten (seit 1988) Kohortenstudie, in der rund 70 Prozent aller Menschen mit HIV in der Schweiz erfasst sind – wird diesbezüglich hervorragende Forschung betrieben und auch publiziert. Hier können essenzielle Informationen gewonnen werden zu vielen Fragen – wie breitet sich das Virus aus? wer ist betroffen? wo und wann? wo liegen die Cluster der Übertragungen? wo könnte man präventiv Massnahmen umsetzen? –, dieses Potenzial wird heute zu wenig genutzt. Ferner ist die Verbindung dieser Informationen mit anderen wichtigen Datenquellen (z.B. Daten vom Meldewesen, von den Teststellen oder von SwissPrEPared) und die Kommunikation dieser Informationen zu anderen Präventionsfachleuten noch ungenügend. Damit diese neuen Entwicklungen optimal genutzt werden können und das Zusammenspiel der verschiedenen Bereiche funktioniert, braucht es eine neue nationale Strategie. Die Roadmap zur Elimination von HIV/Aids und Hepatitis in der Schweiz der Eidgenössischen Kommission für sexuell übertragene Infektionen (EKSI) hat viele dieser Aspekte aufgenommen.
Wieso ist es wichtig, bei HIV auch Hepatitis mitzudenken?
Es besteht eine Schnittmenge, die gross, aber nicht komplett ist. Das hat dazu geführt, dass gewisse «traditionelle» Berührungsängste der verschiedenen Akteure von HIV und viraler Hepatitis bestehen. Dies gilt auch für die Fachpersonen. Zum Beispiel wird HIV grösstenteils von Infektiolog:innen, Hepatitis eher von Hepatolog:innen und verschiedenen Fachstellen der Suchtmedizin betreut. Bei Erkrankungen, die zum Teil, aber nicht immer, gleich übertragen werden, ist es eine vertane Chance, wenn wir zum Beispiel bei einer HIV-Diagnose nicht auch an Hepatitis und andere sexuell übertragbare Infektionen denken, und umgekehrt. Sprechen wir mit einer Person über HIV, soll man auch über das Risiko von Hepatitis B und C informieren. Das ist eine Gelegenheit, und diese gilt es zu nutzen und das Schubladendenken zu vergessen. Wenn man in Kontakt mit einem Menschen ist, kann man fragen und allenfalls informieren: «Möchten Sie sich testen lassen? Sind Sie geimpft? Besteht ein Risiko? Wurden sie je getestet für HIV und Hepatitis?». Hier könnte man mit wenig Aufwand viel erreichen. Oder nehmen wir das Beispiel Chemsex. Hier werden die sexuellen Risiken meist mit HIV verbunden, der Drogenkonsum hingegen eher mit Hepatitis. Es ergibt medizinisch keinen Sinn, dies so zu trennen. Wir sollten auf allen Ebenen immer die Gelegenheiten nutzen, um über HIV und Hepatitis zu sprechen.
HIV und Hepatitis sind beides Infektionen, die heute gut behandel- und therapierbar sind.
Absolut, aber auch hier brauchen wir eine neue Strategie, welche diesen neuen Entwicklungen Rechnung trägt. Denn auch in diesem Bereich stehen uns neue Möglichkeiten zur Verfügung. Hepatitis C kann man in acht bis zwölf Wochen heilen, die Infektion ist weg, generiert viel weniger Nachfolgeschäden und kann nicht mehr übertragen werden. Oder die neuen Möglichkeiten der HIV-Präexpositionsprophylaxe PrEP, ein neues und sehr effizientes Mittel zur Verhinderung von HIV-Übertragungen. PrEP muss in der neuen Strategie einen wichtigen Platz haben.
Was ist Ihre Prognose für die Zukunft?
Aktuell sind wir in der Schweiz von 95-95-95 nicht weit entfernt. Das ist bereits ein grosser Erfolg, und die Schweiz liegt im europäischen wie auch im internationalen Kontext vorne. Gleichwohl dürfen wir die weiteren UNAIDS-Ziele (z.B. Reduktion der Inzidenz um 90 %, Reduktion von Stigma, Zugang zu Präventionsmitteln inklusive PrEP usw.) nicht aus den Augen verlieren. Die nackten Zahlen sind dabei nicht so wichtig, aber wir müssen auf diese Ziele hinarbeiten. Denn jede einzelne Transmission, die wir verhindern können, ist wichtig, hinter jeder steht ein Mensch. Auch dürfen wir in der neuen Strategie den internationalen Kontext nicht aus den Augen verlieren. Nehmen wir zum Bespiel Osteuropa, viele dieser Länder sind sehr weit weg von den WHO-Zielen. Diese Krankheiten machen an keiner Grenze halt. Dass das Erreichen der WHO-Ziele nicht einzig eine Frage der Ressourcen ist, zeigt Botswana: Das Land im Süden Afrikas hat mit einem nationalen Programm die UNAIDS-Ziele 90-90-90 erreicht – dies dank einer effizienten nationalen Strategie.
UNAIDS-Ziele zur Beendigung von Aids bis 2030
2015 beschlossen die Vereinten Nationen, die Aids Epidemie bis 2030 zu beenden. 2020 sollte ein Zwischenziel mit den Werten 90-90-90 erreicht werden:
- 90 % aller Menschen mit HIV kennen ihren HIV-Status.
- 90 % aller Menschen mit diagnostizierter HIV-Infektion erhalten eine dauerhafteantiretrovirale Therapie.
- 90 % aller Menschen, die eine antiretrovirale Therapie erhalten, sind nicht mehr nach- weisbar.
Diese Ziele wurden international verfehlt. Ende 2019 kannten weltweit erst 81 % der Menschen mit HIV ihren Status, 82 % davon erhielten eine Behandlung, und bei 88 % war die HIV-Vermehrung erfolgreich unterdrückt.